Eine mögliche Geschichte

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„Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.


Max Frisch, „Der frische Sturmmaxe“

“Everything has already begun before, the first line of the page of every novel refers to something that has already happened outside the book …The lives of individuals of the human race form a constant plot, in which every attempt to isolate one piece of a living that has a meaning separate from the rest – for example, the meeting of two people, which will become decisive for both – must bear in mind that each of the two brings with himself a texture of event, environments, other people, and that from the meeting, in turn, other stories will be derived which will break off from their common story.”


Italo Calvino, “If on a Winter’s Night a Traveler”

“There has to be, just left up in the air, a mystery.”

Das in diesem Buch dokumentierte Gespräch könnte eine Geschichte sein. Einführend treffen hier zwei Charaktere aufeinander – es handelt sich offenbar um den Besuch eines Fremden, um eine Begegnung mit dem Anderen. Dieser ist möglicherweise ein Alien, und dessen Motiv scheinbar eine geheime, nicht zu entlarvende Mission. Das Setting des Erzählplots ist ein Haus in Los Angeles, welches in der Vorstellung des zweiten Protagonisten seine eigene Geschichte entfaltet und dem ein organisches Eigenleben innewohnt, das sinnbildlich die Geschichte widerspiegelt. Auch die im Sternenhimmel eingebettete Erde fließt als Handlungsort in die Geschichte mit ein.
Die Handlung verästelt sich in einer Spannbreite an Themen, folgt einem unvorhersehbaren Gesprächsverlauf, und ist daher offen. Ihre Grundlage aber scheint von erzählerischen Konstrukten inspiriert zu sein. Und gerade weil die Erzählung nicht das Ziel verfolgt, das Geheimnis eines Kunstwerks oder eines Künstlers zu lüften und im direkten Verhältnis zum künstlerischen Werk Leerstellen entstehen, kommt sie der Sache ziemlich nahe.

“Maybe I am an alien. You don’t know.”

Erzählungen sind Teil menschlichen Lebens, und der Mensch bedient sich in seinem Zugang zur Welt narrativer Strategien. Der Leser oder Betrachter beteiligt sich aktiv an der Konstruktion einer literarischen, filmischen oder künstlerischen Handlung. Jede Erzählung gibt Informationen preis, die zur Entschlüsselung der Handlung vielleicht sekundär oder sogar irrelevant sind, um durch kurzzeitige Irritationen Spannung zu erzeugen. Ähnlich einem Detektiv deutet der Leser oder Betrachter sie wie Indizien, schreibt einigen Bedeutung zu, und anderen nicht. Informationen, welche die Erzählung nicht direkt vermittelt – zum Beispiel die Lebensgeschichte eines Filmprotagonisten, die in der Zeit vor Beginn oder nach Ende der filmischen Handlung liegt – werden von der Imagination des Betrachters ergänzt und führen so zur Entstehung einer „Fabula,“ die durch die Vorstellung des Rezipienten ausgefüllte Handlung.1
Literarische, künstlerische und filmische Erzählpraxis zeichnet sich meist durch die Suggestion von Kontinuität und durch kausale Handlungszusammenhänge aus. Damit bedient sie das Bedürfnis des Betrachters oder Lesers nach Kohärenz – ein Bedürfnis, das sich in seinem Zuordnungszwang manifestiert:
„Motive, die keine weitere Bedeutung im Fortgang der Erzählung haben, irritieren – sie werden von den Lesern oder Zuschauern an den Rand des Blickfelds verschoben. Der fokussierende Blick des Publikums misst allem, was sich im Sehkreis ereignet, Bedeutung zu. Nichts bleibt unberührt von diesem Erwartungsdruck, der Zusammenhänge herstellt, manchmal gegen die erklärte Absicht des Erzählers. Selbst in der offensten Erzählform, die traditionelle Erzählstrukturen außer Kraft setzen soll, selbst da bleibt eine Kernzone unberührt, in der Zwangsläufigkeit und mindestens der doppelte Sinn der erzählten Welt erkennbar werden.“2
In der klassischen Erzählung gibt es keine Zufälle, alles hat Funktion und Bedeutung. Im Film sind Leerstellen Zwischenräume in einer Raum-Zeit-Maschinerie, die Leere „das zufällige Ereignis, welches die Struktur aufdeckt, in die das Subjekt verwickelt ist.“3 Beispielsweise wartet in „Der Unsichtbare Dritte“ Roger Thornhill, und mit ihm der Zuschauer, in der weiten Leere des verlassenen Highways auf eine Begegnung, die nicht stattfindet. Der Zufall in einer Erzählung birgt aufgrund seiner Bedeutungsleere den Verweis auf die Handlungsstruktur in sich.
Was nun, wenn sich die durch die Erzählung preisgegebenen Informationen keiner Bedeutungshierarchie mehr zuordnen lassen und eine klare Handlungsbeschreibung unmöglich machen? Wenn Irritationen bestehen bleiben und die Handlung als solche sich auflöst, hat man es mit einer unzuverlässigen Erzählung zu tun. Unzuverlässigkeit beginnt dort, wo man als Zuschauer nicht mehr zwischenTraum und Realität unterscheiden kann, wo das Subjekt eine klar umrissene Identität verliert und man nicht weiß, ob man es mit Geistern oder mit Verrückten zu tun hat. Die meisterhafte Erzählung aus dem 19. Jahrhundert „The Turn of the Screw“ von Henry James handelt als phantastische Geistergeschichte von zwei verhexten Kindern. Als psychorealistische Geschichte ist jedoch die Erscheinung von Geistern ebenso gut auf die gestörte Psyche der Gouvernante zurückzuführen. Wohin sich der verzweifelte Leser auf seiner Suche nach Beweisen auch wendet, so findet er stets eine gleichberechtigte Beweislast auf der anderen Seite. Die Zuverlässigkeit narrativer Orientierung, die dem Leser oder Betrachter das Genre in der Vergangenheit geboten hat, wird durch „The Turn of the Screw“ grundlegend in Frage ge- stellt, hat aber hinsichtlich zweier doch immerhin noch erkennbar nachzuzeichnende Erzählpfade Bestand. In dieser genial konstruierten Geschichte sind jede der beiden Deutungen genauso möglich, wie sie sich gegenseitig ausschließen. Die Erzählung bietet keine Deutungssicherheit im Genre, wie das Phantastische oder das Surreale, denn ihre zunächst behaupteten Tatbestände – zum Beispiel die eines Traums oder der Geister – werden im Laufe der Erzählung in Frage gestellt und bleiben immer nur Möglichkeiten.
Wenn die Kenntnis aller Umstände und Ereignisse dem Leser oder Betrachter vorenthalten wird, man sich fragt, was in der Erzählung tatsächlich geschehen ist, dann hat es einen Überhang an Leerstellen gegeben.4 Eine scheinbare Handlung verläuft sich, wenn die Leerstellen in dem Maße wachsen, wie die Indizien, welche die Konstruktion der kohärenten Geschichte ermög- licht hätten, dahinschwinden.

“When you are drawing, there is something in between.”

Über ihre Bedeutung als literaturwissenschaftlichen Terminus hinausgehend können Leer- stellen im Werk sich in eine Leere verwandeln, die eine beinahe physische Existenz in der Welt der Erzählung annimmt und die Handlung ersetzt. Die Filme von Michelangelo Antonioni sind beispielhaft dafür. “Blow Up” ist ein Film, der nach und nach aus seinem Genre herausfällt und bewusst als Detektivfilm ‚scheitert,’ weil er dem Betrachter, wie auch dem Protagonisten, zu wenig Informationen bietet, um den Fall zu lösen.5
In seinen Filmen „Il Deserto Rosso“, „L’Eclisse“, oder „La Notte“ verleiht Antonioni dem Gefühl der Leere noch ausgeprägtere Konturen. Im schwebenden Ende von „La Notte“ lösen sich die Erzählstränge selbst-reflexiv in einer Leere auf, die von Zärtlichkeit und Demut spricht, gerade weil sie der Komplexität des Lebens Respekt zollt. Ein Kritiker in den 60er Jahren lehnte das Ende von „La Notte“ ab, weil man um das ‚wahre Ende’ wissen könne, es aber zurückgehalten werde. Die Geschichte werde dann aufgegeben, wenn es die Intention des Regisseurs erfüllt, nicht aber die Bedürfnisse des Zuschauers befriedigt habe.6 Doch auf die Frage, wie eine Ge- schichte ausgehen soll, antwortet am Ende der Film selbst, als der Schriftsteller Giovanni bemerkt: „Auf so viele Arten und Weisen.“

Meister in der Konstruktion nicht aufzulösender Handlungsstränge ist David Lynch, dessen Filme sich „als Diskurs über das Erzählen an sich“ lesen lassen.7 Lynch zertrümmert alles, was zu der von David Bordwell benannten „classical narration“ gehört: Die Kontinuität von Raum und Zeit, die Chronologie der Ereignisse, die innere Logik der Geschichte, die stabile Identität der Figuren. „Lost Highway“ suggeriert kontinuierlich eine schlüssige Handlung und gibt unzählige Indizien für eine mathematische Konstruiertheit. Egal, wie oft man sich den Film jedoch anschaut und versucht, eine zerstückelte Chronologie zusammenzufügen, wird man mit unlösbaren Rekonstruktionsschwierigkeiten der Handlung konfrontiert – alles verweist aufeinander, ohne ein schlüssiges Ganzes zu bilden.8
Die Irritationen und Widersprüche der Geschichte und die Unmöglichkeit einer schlüssigen Nacherzählung der Handlung lassen sich nur unbefriedigend durch die psychologische Interpretation der dem Protagonisten attestierte Schizophrenie als Krankheitsbild erklären. Höchstens als künstlerische Methode, „die sich einer am psychologischen Realismus orientierten Lesart widersetzt,“ vermag sie eine Annäherung an die Narration des Films zu ermöglichen.9
Dabei geht Lynch, wie James, eine Gratwanderung zwischen Psychologie und Phantastik ein, bei dem der Zuschauer in keinem Genre und in keiner Deutung klaren Rückhalt findet. Laut Georg Seeßlen ist die Erzählweise von Lynch exemplarisch für das postmoderne Kino, das „keine willkürlichen Brüche mit dem traditionellen Erzählkino“ darstellt, sondern eine „hyperrealistische Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen“ ist: die Schizophrenie wird zur Biografie der Protagonisten erhoben und spiegelt damit eine allgemeine Lebensverfassung wider.10 Zwei Figuren leben gleichzeitig in mehreren Welten und „von keinem Standpunkt aus ist zu klären, welcher von beiden Existenzen, die über so viele Zeichen, Personen und narrative Segmente miteinander verbunden sind, die eigentliche und welche die geträumte ist … dass der Mensch in der postdemokratischen Mediengesellschaft nicht mehr Subjekt seiner Geschichte sein kann, findet ihr erschreckendes und faszinierendes Bild in einem Menschen, der sich überhaupt nicht mehr in den Kategorien des Subjekts und des Objekts fassen lässt. Er repräsentiert weder ein Ich, noch ist er ein Objekt im Sinne eines vollständigen Gegenübers.“11
Die Schwierigkeit, einer Figur eine klar umrissene Identität zuzuordnen oder gar ein Subjekt an sich zu etablieren, hängt unmittelbar mit dem Problem der Rekonstruktion einer zeitlichen Chronologie und der Kontextualisierung der Figur innerhalb einer zeitlichen Dimension zusammen. Lynchs Filme lassen irrigerweise glauben, man müsse die zerstückelten Teile eines Puzzles nur anders anordnen, um zu einem schlüssigen Zeitablauf zu gelangen. Insofern scheint die Zeit in seinen Filmen nicht einfach suspendiert – wie vielleicht im Traum oder in einer surrealistischen Erzählung – sondern wird in ihrer Konstruiertheit als elementarer Bestandteil der unzuverlässigen Erzählstrategie deutlich.
Die Unzuverlässigkeit und Unsicherheit, die sich aus der Schwierigkeit der temporalen Zuordnung von Figuren, Geschehnissen und Szenarien in Filmen wie Lynchs ergibt, spiegelt laut Georg Seeßlen eine Katastrophe der Zeit wider: „Wir leben nicht mehr in dem sozusagen ausgehandelten Mythos von Wirklichkeit, sondern lernen, in verschiedenen Wirklichkeiten, in verschiedenen Zeiten gleichzeitig zu leben.“12 In den Erzählungen, die zeitliche und räumliche Verortungen erschweren, ist die Schwierigkeit der Menschen in den entwickelten Industriegesellschaften mit der Konstruktion von Zeit als Linearität historischer, gegenwärtiger und zukünftiger Entwicklung zu erkennen: „Der Entnaturalisierung von Wirklichkeit und der Ent-Totalisierung von Wirklichkeit entspricht wohl auch eine ‚Ent-Zeitlichung’ von Wirklichkeit als Ausdruck einer geändert Lebensverfassung.“13 Die physikalischen Entdeckungen und geisteswissenschaftlichen, künstlerischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts haben dem Menschen eben gezeigt, dass gängige Wahrnehmungen von Raum und Zeit nicht die absoluten Wahrheiten sind, für die sie gehalten wurden. Der unzuverlässige Erzähler spiegelt die Komplexität eines Raum- und Zeitgefüges wider, das sich auf das Bewusstsein uneindeutiger und vielfacher Realitäten und Identitäten zurückführen lässt.
Der Mensch hat es mit einer neuen Art der Einsamkeit zu tun. Es ist „nicht die des Cowboys, der den Widerspruch zwischen seiner Sehnsucht nach Freiheit und seiner Sehnsucht nach Liebe nicht zusammen bekommt, und auch nicht die des existentialistischen Menschen, der zu einer Freiheit verurteilt ist, die er nicht hat. Es ist die Einsamkeit eines Menschen, der mit den Zeichen der Welt allein gelassen ist, der die Welt unendlich lesen muss, ohne ihre Grammatik zu kennen. Es ist die fundamentale Einsamkeit des Lynch-Helden (…) Er lebt mit seinen Mitmenschen weder in einer gemeinsamen Erzählung noch in einer gemeinsamen Konstruktion von Zeit und Raum.“14 Ob es die Einsamkeit der Moderne ist, die einem Zustand der Leere entspricht, oder die einer Postmoderne, die einem Zustand der Überfülle entspringt, die Sterne schweigen sich aus.

”Can we draw for love?“

Unauflösbare Irritationen in Erzählungen wirken verstörend und faszinierend, weil sie das „Flüchtige und womöglich sogar Fiktive der eigentlichen, scheinbar so fest gegründeten Existenz verspüren lassen.“15 Die Produktion von Ambivalenz als Spiegel der Welt macht Angst und widerspricht dem Bedürfnis nach Zuverlässigkeit in Erzählungen:
„Ambivalenz, die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen, ist eine sprachspezifische Unordnung: ein Versagen der Nenn- (Trenn-) Funktion, die Sprache doch eigentlich erfüllen soll. Das Hauptsymptom der Unordnung ist das heftige Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir außerstande sind, die Situation richtig zu lesen und zwischen alternativen Handlungen zu wählen. Weil die Erfahrung von Ambivalenz von Angst begleitet wird und Unentschiedenheit zur Folge hat, erfahren wir sie als Unordnung.“16
Das unzuverlässige Subjekt und die unzuverlässige Erzählung sind Ausdruck menschlicher Unsicherheit in der Welt und seiner Unfähigkeit, in Zuge der schwerwiegenden Infragestellung von Realität Verantwortung zu übernehmen. Das aufgelöste Subjekt im Labyrinth der Bibliothek von Babel findet sich in einer deterritorialisierten Welt der schizophrenen Vielheit wieder: alle Texte sind schon da. Wie lebt der Mensch mit dem vollem Bewusstsein, dass jeder Entscheidungspunkt, jeder Scheideweg sich unendlich teilt, dass die Welt unendliche Alternativen in jeder Situation bietet?
Literatur, Kino, Kunst, Geschichten und Schriften bewegen sich im Vakuum des Todes: der Tod der „Moderne,“ der Tod eines tradierten Kulturverständnisses, der Tod des Autors. Die Protagonisten in Filmen wie „Lost Highway,“ „Memeto,“ “Fight Club” oder “Shallow Grave” sind lebende Tote, die ihren eigenen Tod (zumindest den symbolischen) irgendwie überlebt haben und trotzdem weiter machen. Diese von Professor Thomas Elsaesser als „post-mortem“ bezeichneten Filme zeigen, dass wir uns in einer „posttraumatischen Situation befinden, in der es evident ist, dass sich die Katastrophe – das ‚Ende des Menschen’ – schon ereignet hat und wir, was unser Bewusstsein oder unser tradiertes, kulturell-philosophisches Selbstverständnis angeht, tatsächlich schon ‚tot’ sind.“ 17 Das populäre Kino des letzten Jahrzehnts greift auffallend häufig Themen auf, die auf diesen „Tod“ des kulturellen Selbstverständnisses hinweisen: Schizophrenie und multiplen Identitäten und Realitäten („Spider“, „Identity“, „Being John Malkovich“, „The Truman Show“); Simultanität, vermeintlicher Zufall und Nichtlinearität von Zeit („Babel“, „Amores Perros“); und Gedächtnisverlust („Eternal Sunshine of the Spotless Mind“). Wir haben es scheinbar mit einer „post“-Epoche zu tun, die sich nur durch ein Danach definiert.
Wir sind aber noch am Leben. Dem unter meist dystopischen Akzenten diskutierten kulturellen Selbstverständnis ist die Unzuverlässigkeit von Erzählungen wie der des populären, kommerziellen Kinos entgegenzusetzen, welches mit erstaunlicher Präzision die Krise vor-, auf- und nachzeichnet: „Was weiß also das populäre Kino über die Zeit und das Subjekt, über Handlungsraum des Individuums und Handlungszwang der Menschen innerhalb der sie umgebenden administrativen und technologischen Systeme, das wir (noch) nicht wissen oder wissen wollen?“18 Kann der Mensch durch unterschiedliche Formen der Narration einen gewissen Umgang mit Raum und Zeit immer wieder neu erlernen und die Angst vor Unzuverlässigkeit und Uneindeutigkeit im künstlerischen Prozess überwinden? Wenn die klassische Erzählung dafür geschaffen ist, Zuverlässigkeit zu bieten, wo es das Leben nicht tut, dann stellt eine Geschichte gegenüber der Komplexität des wirklichen Lebens eine Einschränkung seiner Möglichkeiten dar. Dann ist die Verpflichtung zu einer bestimmten Geschichte eine schmerzhafte Verminderung der rauschenden Möglichkeiten des weißen Blattes. “The pages which contain truth are blank.”
Die Erkenntnis der schöpferischen Kraft in der Produktion von Ambivalenz als Spiegel der Welt relativiert die Wahrnehmung von Inkonsistenz oder Instabilität, die dem Begriff des Unzuverlässigen innewohnt. 19 Henri Bergson hat in seiner Philosophie die Auffassung von Zeit als Dauer formuliert, die eine eigene, dem Raum wesensunterschiedliche Dimension darstellt. Er lehnt die Gegenbegriffe Wirklichkeit und Möglichkeit ab, da die Wirklichkeit der Möglichkeit gleiche: „So macht man sich ein in sich fertiges Wirkliches zurecht, das vorgeformt ist, seiner eigenen Existenz vorausgeht und in einer Reihe aufeinanderfolgenden Limitationen in die Existenz übergeht. Die ganze Wirklichkeit hat man so in der Scheinaktualität des Möglichen im Bild.“20 Es geht nicht, laut Bergson, um eine Wirklichkeit als eingeschränkte Realisierung von Möglichkeiten, sondern um ein Virtuelles, das sich ständig aktualisiert:
„Betrachten wir die Zeit als eine vierte Dimension des Raumes, so wird bei dieser vierten Dimension unweigerlich vorausgesetzt, dass sie alle möglichen Formen des Universums an einem Stück enthalte; dann gelten die Bewegung im Raum wie auch der Zeitverlauf nur noch als Erscheinungsformen der drei Dimensionen. Dass aber der wirkliche Raum tatsächlich nur drei Dimensionen hat und die Zeit keine Dimension des Raumes ist, bedeutet: Es gibt eine Wirkmächtigkeit, eine Positivität der Zeit, die tatsächlich mit einem ‚Zögern‘ der Dinge und insofern mit der schöpferischen Kraft in der Welt eins ist.“
Bergsons Philosophie richtet das Augenmerk auf das Vermögen, „sich zu teilen, ohne sich zu spalten, eins zu sein und mehrere.“21
Die Auffassung einer schöpferisch ausgerichteten Virtualität befreit von der Lähmung durch tausender noch möglicher und bereits realisierter Möglichkeiten. In diesem Kontext fällt das Plädoyer für eine Kunst des Unmöglichen auf fruchtbaren Boden – der Versuch, Kunst als „eigenständige Wahrheitsproduktion“ und „Bildung von Nicht-Indifferenz“ zu begründen. In der Nicht- Indifferenz findet sich die Frage der Verantwortung wieder. Nicht jene Verantwortung, die Welt zu heilen oder sie zu erklären, sondern vielleicht das „heroische Akzeptieren der Nichtexistenz des großen Anderen als einzige wirklich radikale ethischeHaltung?“22 Eine„Kunst des Unmöglichen“ gibt die Möglichkeit von Verantwortung, Differenz und Entscheidung nicht kampflos preis.
So selbst-reflexiv menschliche Erzählungen auch sein mögen, und so sehr sie sich den Diskurs der Komplexität vieler Wirklichkeiten zum Thema machen, das unvermeidliche Risiko, durch die Teilung und Differenzierung aus dieser Komplexität Verantwortung zu übernehmen, bleibt bestehen. Scheint beim unzuverlässigen Erzähler, der dem Plädoyer einer „Kunst des Unmöglichen“ folgend von der Unmöglichkeit, Geschichten zu erzählen, spricht, und sie dennoch erzählt, die Liebe hindurch? Der Journalist Michael Althen schreibt in seinem Artikel, nach Camus „Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“ betitelt, über das Werk Antonionis: „Das Universum mag (…) mit aufreizender Langsamkeit auseinander treiben und eine immer noch gähnende Leere hinterlassen, aber Antonioni begegnet diesem Schrecken mit Liebe.“ 23 Mit dem Begriff „amor vacui“ charakterisiert er das Werk Antonionis. Wenn wir das Begehren des Unmöglichen für vernünftig halten können, dann ist auch die Frage „can we draw for love?“ nur noch eine Rhetorische – eine Möglichkeit, sich wenigstens für kurze Zeit als Teil des Universums zu begreifen.

Text: Miriam Dagan
Übersetzung: Miriam Dagan


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1 For an explanation of the term “fabula” as proposed by the Russian Formalists, cf. David Bordwell: 
Narration in the Fiction Film, London 1985, p. 49 ff.

2 Thomas Koebner, Was stimmt denn jetzt? “Unzuverlässiges Erzählen” im Film, in: Malte Hagener, Johann N. Schmidt, Michael Wedel (eds.), Die Spur durch den Spiegel – Der Film in der Kultur der Moderne, Berlin 2004, p. 96. (Translation from the German is the author’s own.)
3 Mladen Dolar, cit. in: Klaus Kreimeier, Extension bis zum Nullpunkt. Die stillgestellte Zeit im Bewegungsbild,
in: Christine Rüffert, Irmbert Schenk (eds.), Zeitsprünge – Wie Filme Geschichten erzählen, Berlin 2004, p. 24.

4 cf. Thomas Koebner, Was stimmt denn jetzt?, p. 94.

5 cf. Bordell, Narration in the Fiction Film, p. 54.

6 cf. Bordell, Narration in the Fiction Film, p. 209.

7 cf. Fabienne Liptay, Auf Abwegen – oder wohin führen die Erzählstraßen in den Roadmovies von David Lynch?,
in: Fabienne Liptay, Yvonne Wolf (eds.), Was Stimmt Denn Jetzt? – Unzuverlässiges erzählen in Literatur und Film, Munich 2005, p. 309.
8 cf. Liptay, Auf Abwegen – oder wohin führen die Erzählstraßen in den Roadmovies von David Lynch?, p. 309.
9 Liptay, Auf Abwegen – oder wohin führen die Erzählstraßen in den Roadmovies von David Lynch?, p. 315.

10 cf. Georg Seeßlen, Zeitsprünge und Zeitmosaik im neueren Kino. Eine Analyse innerer Zeitstrukturen und Zeitbilder am Beispiel David Lynch, in: Christine Rüffert, Irmbert Schenk (eds.), Zeitsprünge – Wie Filme Geschichten erzählen, Berlin 2004, p. 109.

11 Seeßlen, Zeitsprünge und Zeitmosaik im neueren Kino, p. 110. (Translation from the German is the author’s own.)

12 Seeßlen, Zeitsprünge und Zeitmosaik im neueren Kino, p. 103. (Translation from the German is the author’s own.)

13 Irmbert Schenk, Zeit und Beschleunigung. Vom Film zum Videoclip?, in: Christine Rüffert, Irmbert Schenk (eds.), 
Zeitsprünge – Wie Filme Geschichten erzählen, Berlin 2004, p. 83. (Translation from the German is the author’s own.)
14 Georg Seeßlen, Zeitsprünge und Zeitmosaik im neueren Kino, p. 113. (Translation from the German is the author’s own.)

15 Thomas Koebner, Was stimmt denn jetzt?, p. 93. (Translation from the German is the author’s own.)

16 Zygmunt Bauman, cit. in: Irmbert Schenk, Zeit und Beschleunigung. Vom Film zum Videoclip?, p. 83.
(Translation from the German is the author’s own.)

17 Thomas Elsaesser, Was wäre, wenn du schon tot bist?
 Vom ‘postmodernen’ zum ‘post-mortem’ Kino am Beispiel von Christopher Nolans Memento, in: Christine Rüffert, Irmbert Schenk (eds.), Zeitsprünge – Wie Filme Geschichten erzählen, Berlin 2004, p. 125. (Translation from the German is the author’s own.)

18 Elsaesser, Was wäre, wenn du schon tot bist?, in: Zeitsprünge – Wie Filme Geschichten erzählen, Berlin 2004, p. 125.
(Translation from the German is the author’s own.)

19 cf. Thomas Koebner, Was stimmt denn jetzt?, p. 94.

20 Henri Bergson, cit. in: Gilles Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 1989, p. 122.
(Translation from the German is the author’s own.)

21 Gilles Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, p. 102. (Translation from the German is the author’s own.)

22 Wilfried Dickhoff, Für eine Kunst des Unmöglichen, Cologne 2001, p. 14. (Translation from the German is the author’s own.)

23 Michael Althen, Die Zärtliche Gleichgültigkeit der Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8 Jan. 2007, p. 31.