Die Erschaffung der Welt

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Eine Phantasie über Innen und Außen
für M.H.

DIE Welt, wie sie ist, wurde von Menschen in ihren Zimmern erdacht. Wahrscheinlich begann es als sie Kinder waren, und sie in unruhig unschuldigem Schlaf unterhalb von Landkarten lagen, die an Wänden, auf denen Pflanzenornamente asymmetrisch wucherten, mit Stecknadeln befestigt waren. Auf den ausladenden Nachttischen neben den schmalen Betten lagen Abenteuerromane, und Stapel von Briefen, geschrieben von weit gereisten Verwandten dritten Grades, beschwert mit Korallen, die in Glas gefasst waren, damit der Nordwind die Schriftstücke nicht wegwehen würde. Gelegentlich gesellten sich Miniaturkompasse und winzige Sextanten dazu, aus Messing gefertigt, das mit der Zeit angelaufen war. Und da lagen Zirkel neben Bleistiften, Linealen und Dreiecken aus Hölzern verschiedener Härtegrade, sowie acht- los gefaltete Seekarten. Über einer kurzen Kerze schwammen Kamilleblüten in einer Schale aus dünnem Porzellan. Unter den Kopfkissen versteckten sich Zugfahrpläne, und gelegentlich ein Baedeker aus der Reisebibliothek des Vaters.

DIE Mütter spielten spät in der Nacht in von Mondlicht beschienenen Salons auf melancholischen Spinetten, und gedachten zum Klang selbstvergessener Etüden, ihrer Brüder und Schwestern, die von Fernzügen und Ozeandampfern aus die Welt betrachteten. Zwischen den dünnen Fäden der Töne, die sich erratischen Meridianen gleichend durchs Zimmer zogen, konnte man in der stillen Dunkelheit das Summen von Telegraphendrähten hören, die im Takt des virtuos die Morsetaste bedienenden Fingers, von der Ferne erzählten.

VIELE Jahre später saßen die Kinder, mittlerweile geschult und versiert in ihren Rollen als Erwachse- ne, in geerbten Zimmern an exotischen Sekretären, deren schwarze Lackierungen wie Wasser in Nächten mit schmalen Monden schimmerten, und an deren Ufern man Kraniche und Flussbote aus Jade inmitten silberner Schilfgräser erahnen konnte, und lasen freudigen Auges die Berichte ihrer Geschwister, die auf den Inseln waren, die Berge und Vulkane bestiegen, die Ozeane kannten, die über Steppen und Prärien ritten, die Wüsten sahen, an Stränden saßen, den Dschungel im Rücken, an Kaimauern lehnend trockene Zigaretten rauchten, und in den Lobbys mittelmäßiger Herbergen, an nachlässig gepflegten Schreibpulten lehnend, auf Hotelbriefpapier Depeschen an ein fast vergessenes Zuhause verfassten.

OFT beschrieben sie seitenlang die Qualität des Lichts, listeten die Elemente der Landschaft in ihrem perspektivischen Verhältnis zueinander auf, skizzierten Sonnenuntergänge und Mondphasen an den Blatträndern, oder unterbrachen den Text mit leichthändig hingeworfenen Pflanzenstudien und detaillierten Darstellungen von Mineralen und Kristallstrukturen, in denen sie eine geheime Erklärung des Kosmos vermuteten, und sehr selten wurden sie sentimental, noch rarer waren Äußerungen persönlicher Natur, in der Regel gaben sie sich euphorisch, und nannten ihr Leben ein tägliches Ausweiten und Auffalten innerer Atlanten, über die Druckränder hinweg, jenseits von Winkeln und Linien, den Näherungswerten der Geometrie, der natürlichen Krümmung der Erde stündlich näher kommend.

ÜBER Jahrhunderte geformten, und in Verschwiegenheit bewahrten Traditionen des Reisens verpflichtet, unterzeichneten sie ihre Notizen mit präzisen Angaben zu Längen – und Breitengraden, nebst Himmelsrichtung, in international üblicher Kodierung aus Buchstaben, Ziffern und Satzzeichen, sozusagen in der Kurzschrift räumlicher Verortung, darunter setzten sie, in höflichem Abstand, ihre Initialen in sacht geschwungenen Lettern.
IN den Briefumschlägen der weit gereisten Nachrichten fand sich von Zeit zu Zeit die Saat den Empfängern unbekannter Flora, Ausrisse aus namenlosen Tageszeitungen auf denen unvertraute Worte Unverständliches wiedergaben, in Druckerschwärze die sich an hauchdünnem Papier festhielt, und an den Faltstellen dieser in Blei gesetzten Mysterien lagen manchmal, zuvor zwischen Buchdeckeln geglättete Banderolen von Zigarren und im Licht blasser werdende Blütenblätter. Fast nie fiel eine Photographie zwischen den dünnen Lagen unterschiedlichen Papiers heraus. Geschah dies doch, konnte man für gewöhnlich den vage vertrauten Umriss eines Kopfes oder Körpers in einem Quadrat, das mit Licht gefüllt war, erkennen. Ein in offiziellen Registern verzeichneter Ort war auf den Bildern nie, nicht einmal in Andeutung, auszumachen. Und selbst das genaue Studium der variierenden Lichtverhältnisse, hinter den Schattenrissen gleichenden Portraits ließ nicht mehr als unverlässliche Vermutungen zu, die sich wie haardünne Adern auf den weißen Regionen der in Betrachtung verharrenden Augäpfel abzeichneten, um sich nach Überquerung des Irisrings in der Pupille zu konzentrieren, von dort, die Spiegelkammern passierend, den Sehnerv entlang, den runden Raum der Vorstellung erreichten, wo die losen Fakten ihre Form finden würden.

IN den Nächten, nach dem mit Bindestrichen unterteilten Tagwerk, wobei jede verrichtete Tätigkeit der Streichung von Unwesentlichem diente, und nur noch das auf den Innenseiten aufgetrennter und glattgestrichener Briefumschläge zwischen der Erledigung zweier Aufgaben notierte, von Bedeutung war, weitete sich der Raum im Inneren der dämmernden Körper, und während das Bewusstsein dem Traum den Platz überließ, stiegen die Daheimgebliebenen aus ihren Betten, und in langen schlafwandlerischen Bewegungen erschufen sie die Welt, ließen mit gekonnten Gesten Wälder an den Wänden erstehen, Sonnenlicht sich durch Blattwerk brechen, Mondschein sich silbrig auf Nadeln legen, Regen sich mit den Konturen mischen, sanfte, von freundlichen Luftströmungen herrührende Meeresbriesen über die Baumwipfel ziehen und harte, von Berghängen abprallende Winde zwischen die Äste fahren. Und den Wäldern folgten Savannen, die Schlangenlinien von Sandwüsten, sich endlos in Flecken verschiedenfarbiger Moose und Flechten ausdehnende Tundra, breite Wasserläufe, von Urwäldern begrenzt, karstige Hochplateaus, über starker Brandung aufragen- de Steilküsten, Halbinseln in der Abenddämmerung, schneebedeckte Gipfel, Archipele wie in seichtes Wasser geworfene und zufällig angeordnete Kiesel, das zittrige Schimmern von Gletschern und Eisbergen, Nebel- wände über flachem Land, den Farbkreis imitierende Wasserfälle, Gischt die an Felsen bricht, unwägbare den Horizont bedeckende Moore, von den Hufen riesiger Herden aufgewirbelter roter Staub, Schwärme von Vögeln die sich über Landschaften erhoben, begleitet von unzähligen Insekten die Wolkenformationen bilde- ten, und Hügel auf denen die Vorfahren Leuchttürme, Observatorien und Flaggenstationen errichtet hatten.

UND als die Nachkommen am Ende anderer und langer Lebenszeiten die Zimmer betraten, und sich daran machten die Vergangenheit zu ordnen, entdeckten sie die Welt, in Lagen an den Wänden, in Samenkörnern, die vergeblich versuchten in tiefen Teppichen Wurzeln auszutreiben, in Stapeln, mit Koordinaten und Initialen gezeichneter, vor sich hin gilbender Episteln. An einem anderen Ort fanden sie das Erbe aus Eindrücken und Betrachtungen unter freiem Himmel, in einer Lichtung, auf einer Anhöhe, nah am Meer, wo zwischen zwei Bäumen ein Vorhang flatterte, wie ihn in vergangenen Zeiten Straßenphotographen als Hintergrund benutzt hatten. Auf diesem sah man in einem unfertigen Bild die Darstellung einer unvollendeten Welt, und dahinter erstreckte sich, in Dopplung des auf den vernähten Stoffbahnen Form annehmenden Motivs, eine vollkommene Wirklichkeit, in einem Licht, für das es nie eine Beschreibung geben würde.

Falko Teichmann, Februar 2014