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Traces are not just that which remains after
something has left, they can also be a sign of things to come.
„Tokyo Morandi“ ist ein Ausstellungsprojekt, das den teilnehmenden Künstlern ermöglicht, in Auseinandersetzung mit verschiedenen medialen Zugängen der nur mittelbaren Erfahrbarkeit von Emotionen, Wahrnehmungsinformationen und Bewusstseinsvorgängen des Menschen auf den Grund zu gehen und in neuen Raum-, Objekt- und Installationszusammenhängen zu erforschen.
„Tokyo Morandi“ nimmt die Komplexität verschiedener Disziplinen, Methoden und Verfahrensweisen ins Visier, um Fragen nach Speicherung und Abrufbarkeit von sinnlichen wie sachlichen Inhalten zu ergründen. Wie kann Raum zum begehbaren (Bühnen-)Bild werden? Wie können Film, Tanz, Musik und Installation ein zusammenhängendes Ganzes ergeben, welches das Wechselspiel von Prozessen der Verfremdung und der Aneignung in der Figur der Wiederholung auslotet?
Verknüpfungspunkt zwischen allen gezeigten Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit der Malerei des italienischen Malers Giorgio Morandi, der Zeit seines Lebens Stillleben malte und in der Variation des immer Gleichen und in unzähligen Arrangements von leeren Flaschen und Gefäßen die Wiederholung ins Zentrum seiner Arbeit stellte. Mit dieser Repetition seiner gemalten „leeren“ Objekte füllte er diese mit Wahrnehmungsfragen: Was sind die „inneren“ Zusammenhänge von Wirklichkeit? Wie sind das Auge des Künstlers und das Empfinden des Betrachters verknüpft?
Die Wiederholung und die Abstraktion sind Begriffe, die eng miteinander verwoben sind. Wiederholung führt hin zur Disziplinierung und Formalität im Sinne einer Reduktion, und zugleich führt die Repetition zu einem sich steigernden subjektiven Empfinden von „Joie de Vivre“ und dem Zustand des Erwachens und Erkennens, wie es in der Musik oft beschrieben und in der Bildrezeption von Cezanne und Matisse thematisiert wird. Dieses „Erwachen“ kann wie in den gezeigten Arbeiten von Johann Lurf, Sophie Trudeau und Michaela Grill zu einem Rausch, einer Ekstase führen, in der sich der Mensch auflöst oder ein Anderer wird.
Camilla Richters (Berlin) Glasinstallation entspricht einer Klarheit und Formenstrenge, die in Symbiose mit Sinnlichkeit und verführendem Lichtspiel den Betrachter einlädt, die sich ständig ändernde Lichtsituation im Raum mitzuverfolgen.
In der Videoarbeit von Sophie Trudeau (Montreal) und Michaela Grill (Wien/Montreal) wird, was sich wie eine Choreographie der entgeisterten Freude präsentiert, zur Geschichte einer Aneignung: Der Hauptdarsteller ist T.E. Lawrence, der zum ersten Mal das traditionelle Gewand der Beduinen trägt. Er wird von diesem Moment an zu Lawrence von Arabien. Sein Tanz markiert den Moment der Transformation.
Die Arbeiten in Tokyo Morandi interessieren sich für Abstraktionen von Form, Gedanken und Emotionen. Dies bedeutet, dass sie auf ihrer Suche nach Ekstase in der „Formalität“ Abstraktionsprozesse als Wege zum Ziel begreifen. Anders als Morandi verlassen die meisten Künstler in den gezeigten Arbeiten den Innenraum. Ihre Arbeiten sind intensiv, verführen und evozieren im Prozess der Wiederholung einen Zustand des „Aussersichseins“. Es gibt ein großes Verlangen danach, einen anderen Zustand des Daseins durch die Wiederholung zu erreichen – selbst wenn dies Obsession bedeutet.
Simon Faithfulls (London/Berlin) Going Nowhere 5 ist ruhig und psychedelisch. Es wird zusammen mit dem Sound aus „Pools of Light“, dem neuen Album von Jessica Moss aus Montreal, gezeigt.
Simon Faithfulls Going Nowhere 1.5 beschreibt seine Arbeit für die Ausstellung so: „Nowhere 1.5 ist der dritte und jüngste Teil einer Trilogie aus filmischen Arbeiten, welche nun 20 Jahre umspannt. Diese Episode der Trilogie zeigt wieder eine Figur, welche in einer sinnlosen und nie endenden Suche gefangen erscheint. Eine kleine Sandinsel in der Nordsee wird von einer Drohne gefilmt, während die Flut allmählich ihre Küste verschlingt. Eine winzige Figur wandert entlang der Außengrenzen rund um die Insel herum, in einer spiralförmigen Bewegung nach Innen während das Wasser langsam steigt. Irgendwann bedecken die Wellen den trockenen Sand der Insel vollständig und die Figur ist verschwunden.“
Faithfull sagt über die Auseinandersetzung mit Morandis Arbeiten: „Morandi scheint das Reisen und das Unbekannte um jeden Preis vermieden zu haben, aber seine Arbeiten zeigen dennoch eine intensive Auseinandersetzung mit den Formen der alltäglichen Welt um ihn herum. Als Morandi begann, die Landschaft draußen zu erforschen (statt seiner üblichen Stillleben), kaufte er offenbar ein Teleskop anstatt das Haus zu verlassen, und malte die abgeflachten Szenerien, die sich ihm aus einem oben gelegenen Fenster offenbarten. Die Intensität dieses starren und abflachenden Blickes fasziniert und inspiriert mich.“
Mike Moya (Berlin/Montreal) zeigt etwas, dass noch nie vorher veröffentlicht wurde, aufgenommen und gespielt mit Sophie Trudeau und Timothy Herzog, es ist ein melancholischer imaginärer Soundtrack über ein Kind das bei seiner Großmutter lebt. Moyas Arbeit über eine Kindheit, in der fliegende Vögel als Metapher für den dynamischen Schutz der Famlie und für ein Kind das heranwächst stehen, ist eine tief sinnliche Arbeit, die sich in der Repetition verdichtet und emporschwingt.
Das sich Emporschwingen, Surren, und Schwirren, charakterisiert auch Markus Kriegers (Berlin) Installation, die akribisch korrekt installiert und mathematisch genau konstruiert ist, und sich von Wand zu Wand durch den Raum erstreckt; hier breitet sich ein leises Surren der Motoren in den Raum aus und mischt sich mit anderen Geräuschen der äusseren Umwelt.
Kimberley de Jong and Mauro Pezzente aus Montreal präsentieren eine Videoarbeit, die Industrial Sound als Hintergrundgeräusche unseres Alltags aufschichten, sie wiederholen und in Bewegung bringen. Der Klang von Lachen, Vögeln und Glocken ergibt die Melodie, welche den Atem des Lebens in die vorgelegten Soundmuster einwebt.
Die dezidierten Formen eines filmischen Blicks, die z.B. Hinzes Zeichnungen möglich machen, auch Richters Arbeiten provozieren oder Gambletrons Objekte initiieren, lassen den Betrachter konzentriert schauen und immer wieder abschweifen. Die Ruhe in der Kontemplative und die Bewegung des Rausches, der sich ausbreitet, in der Fortpflanzung und im Wachstum macht den Gegensatz zwischen Ekstase und Kontemplative in Hinze s Zeichnungen gleichzeitig sichtbar und zeigt, dass sinnlich und kognitiv wahrnehmbare Zustände gleichzeitig ablaufen und fühlbar sein können – und stärker werden in der Wiederholung.
Das Bild der Kontemplative und die Parallelität von Ereignissen, wie die Bewegung der Sterne führt gedanklich wieder zurück zu Simon Faithfulls gezeigter Arbeit, die eine starke Umkehrung des Bildes eines Sternenhimmels sein kann, der sich in einem menschlichen Zeitraum kaum verändert. Faithfull jedoch schaut nicht von der Erde in den Himmel, sondern lässt den Betrachter mittels einer Drohne vom Himmel auf die Erde blicken; auf eine Ozeanlandschaft, in der eine Insel in Flut verschwindet. Das Bild der im Moment kaum menschlich wahrnehmbaren Veränderung des Sternenhimmel führt den Rezipienten wieder zurück zu den Stilleben und den Malereien von Morandi.
Als Adept des Lichts und Zeit-Reisender erforscht Philippe Leonard (Montreal) Zwischenräume und das Unterbewusste des Optischen. Er streift durch die Welt um Fetzen von Licht mit seiner Kamera einzusammeln. Er verfertigt seine Bilder mit Hilfe von Zelluloid, analogem Video und hochauflösender Digitaltechnologie, und strebt dabei ein einzigartiges hybrides Bildmaterial an. Fleurs d’Automne ist das Portrait einer Jahreszeit, einer Landschaft im Übergang. Es handelt sich hierbei um die formale Untersuchung getrockneter Sonnenblumen als Stillleben, die Morandi’s Obsession folgen, die Form durch Wiederholung auszuschöpfen, und in diesem Prozess möglicherweise ihre Essenz bloßzulegen.
Auch bei Karl Holmquist (Berlin) und seinen Arbeiten spielt die Wiederholung eine wichtige Rolle. Linien, die sich auf einem Papier oder in der Erinnerung wiederholen, formen Muster und vielleicht eine weniger abstrakte Idee von Bedeutung und Sprache, Klarheit statt Auflösung.
Gambletron (Montreal) zeigt eine Arbeit mit dem Titel Circles: Emanations Sephirot Transmission II, eine skulpturale Radiosendung und Performanceplattform, in der Form einer die Unendlichkeit offenbarenden kabbalistischen Struktur. Diese Arbeit untersucht die Evokation der Totalität, welche häufig in improvisatorischen Performances auftritt. Es handelt sich um das zweite Kapitel einer Klangskulptur, die für das 2017er Festival Music International de Victoriaville geschaffen wurde.
Frédérick Arbour (Berlin) and Karl Lemieux (Montreal) zeigen eine gemeinsam entwickelte Filmarbeit. Karl Lemieux sagt über seine abstrakten Animationen: „Seit meinem ersten Film fühle ich mich formalen Experimenten verpflichtet, die das Bild als Sinneseindruck begreifen. „Untitled“ (2018), ein abstrakter Animationsfilm aus handgemalten Bilder und Collagen auf 16mm Film, begleitet von dunkler Ambientmusik, versucht über den Weg der Abstraktion einer bestimmten Ordnung des Sicht- und Hörbaren zu entkommen. Was mich an dieser Arbeit interessiert, ist das Material und die Verhandlung von Ekstase; formal bin ich mit der Verbindung von Bild und Klang beschäftigt, also der Entwicklung eines radikalen Entwurfs cinematischer Macht. Insbesondere bin ich von den in die Welt der Noise Music Initiierten beeinflusst. Ich fühle mich von dem berührt was der Film als physischer Sinneseindruck darstellt, nicht nur als psychologisches Gefühl, selbst wenn der Zuschauer Gefühle wie Angst, Schrecken, Freude oder Panik fühlen kann. Ich glaube, dass es auch einen subtilen physischen Sinneseindruck gibt, der aus dem Rhythmus der Bilder, Klänge und des Schnitts entsteht. Was mich vor allem interessiert ist die Frage nach der Erfahrung, Erfahrung, die man durch einen Film machen kann, eine physische Erfahrung die zugleich persönlich und menschlich ist.“
Johnny Nawracaj aus Montreal sagt über ihre Inspiration durch Morandi folgendes: Ich habe gehofft, auch etwas vollständig neues, durch Morandi inspiriertes zu zeigen. Morandis leere Gefäße als konzeptuelle Wegweiser benutzend, habe ich eine neue zweikanalige Videoarbeit entwickelt, die augenscheinlich leere architektonische Räume erforscht, welche ich mir als Kiemen und Blasen der Gebäude vorstelle. Ein Video einer Belüftungsanlage auf einem Dach in Santiago, Chile wird zusammen mit ähnlichen Aufnahmen eines Wasserturms in Montreal gezeigt. Sanfte Bewegungen der Kamera erinnern den Zuschauer an die Anwesenheit meines Körpers, welcher die Kamera hält. Diese Videoarbeit überträgt Morandis Faszination mit dem leeren Gefäß in ein zeitgenössisches Assoziationsfeld. Die riesigen urbanen Gefäße, die ich darstelle, befinden sich in einer stummen Spannung mit dem menschlichen Körper. Sie beinhalten Wasser oder bewegen Luft, um unsere täglichen Bedürfnisse zu befriedigen und dennoch sind wir von ihnen entfremdet. Meine obsessive Beobachtung dieser Gefäße durch die Linse ist mit Morandis Faszination daran, leere Vasen zu malen, verwandt. Das Objekt, welches im Dienste des menschlichen Körpers geschaffen wurde, erscheint gespenstisch wenn es ohne diesen Kontext alltäglicher menschlicher Bedürfnisse betrachtet wird.
Die Gleichzeitigkeit von Perspektiven und die Gleichzeitigkeit von emotionalen, physischen, kognitiven und bewussten, unterbewussten Zuständen und der inhaltliche Ansatz Begriffe der Wiederholung, Abstraktion und Ekstase auf dem Weg zum Prozess des Erkennens und der Einsicht, miteinander verwoben zu denken, sind inhaltlich und formal Schwerpunkte der Ausstellung.
Das Besondere dieser Ausstellung, die am 9.5. im Meinblau Projektraum ab 19 Uhr eröffnet wird, ist die Auswahl der Künstler aus Berlin und Montreal. Erstmalig zeigen Musiker wie Sophie Trudeau, Mauro Pezzente und Mike Moya der kanadischen Post-Rock Band Godspeed You! Black Emperor Arbeiten, die in diesem thematischen Kontext für die Ausstellung entwickelt wurden und in Kooperation mit Tanzperformance von Kimberley de Jong und Film von Karl Lemieux und Philippe Leonard eine eigenständige, elektrisierende Bildsprache zeigen, die auch Gambeltrons und Nick Kuepfers extra für den Raum konzipierte Arbeiten charakterisieren. Performances und eine zusammenhängende Gesamtinstallation werden die verschiedenen Künstlerpositionen im Ausstellungszeitraum zusammenführen.
In Kooperation mit Arkaoda Club werden zum Closing am 13.5. am Nachmittag ab 15 Uhr Konzerte stattfinden von Gambeltron, Nick Kuepfer, Mike Moya, Etkin Cekin und Niklas Kraft in DJ-Begleitung von Fog Puma und Eli Pavel.
Text: Falko McKenna, Maria Hinze