DE /
Hinze beschäftigt sich in ihrem Werk mit Erinnerung. Das Erinnern ist durch alle kognitiven und sozialen Prozessen mit denen es verbunden ist, bedingt. Die Erinnerung als ein Moment der Gegenwart hat Macht über die Entscheidungen menschlichen Handelns und ist dennoch unsicher in ihrem ontologischen Status.
Das Erinnern und das Vergessen sind zwei inhaltlich aufgeladene Themenpole in Hinzes Werk. Die Wandzeichnungen der Künstlerin haben etwas Kalligrafisches, sind jedoch nicht konventionell entzifferbar. In ihrer leichten und filigranen Art setzen sie sich der Schwere der existentiellen Angst vor dem Verschwinden entgegen. Sie führen den Betrachter zu keinem (Ab-) Schluß, sie nehmen ihn immer weiter mit hinaus in die Zeit und den Raum bis in ein Jenseits, das nach ihm kommt.
Die Spirale als Symbol des Denkens verdeutlicht nach Hinze ein Verständnis, das im westlichen Denken immer noch vorherrscht; die Denkbewegung als solche bildet darin in ihren wiederkehrenden Reflexionen ein Zentrum, oder Telos, oder Sinn, um das/den sie kreist, das sie aber nie erreicht, nur vorübergehend in ihren Bestrebungen einkreisen kann.
Die Spirale symbolisiert für Hinze Bewegungen des Habhaftmachens und damit auch eine genuin abendländische Version des Begreifens. Das Weiterdenken der Laufrichtung der „Denkspirale“ in die entgegengesetzte Richtung, dem Zentrum entgegen, greift über die Peripherie hinaus. Damit erschafft die entgegengesetzte Denkbewegung der Spirale mit ihrem angenommenen Telos oder Sinn „im Rücken“ einen metaphorisch möglichen unendlichen Raum.
Die Dialektik der umkreisenden oder auskreisenden Bewegung und das Andere, das was wir nicht begreifen können, setzt Zeit voraus. Zeit, in der die Bewegung ihre Kreise zieht. Zeit, in der das Andere in wiederkehrender Bewegung versucht wird unter Kontrolle zu bringen. Das Andere, das Zentrum, der Telos, der Sinn und das Noch-zu-Vereinnahmende bedingen kognitive und soziale Bewegung um sie herum, sowie die Bewegung das Andere, das Zentrum, den Telos, den Sinn bedingen. Das versinnbildlicht für Hinze die Form der Spirale als kreisende Denkbewegung.
Hinze beobachtet „durch“ ihre Arbeiten hindurch, zB. mit dem Mittel und Medium der Drohne und der Photographie soziale Einengung und gesellschaftliche Abrichtung. Das Motiv der Drohne und ihre Vogelperspektive im Aussenraum wird dabei virulent. Von Oben betrachtet, also aus einer ganz bestimmten Perspektive, bekommt die Welt Grenzen. Der Überbau in seiner Macht, die Einteilungen zu bilden, schwebt unsichtbar über den Köpfen und gibt ihnen mit der Macht seiner Bilder den Glauben an die Unmittelbarkeit seiner Einteilungen. Hinze versucht dieser selbstverstärkenden Bewegung den Glauben zu entziehen, nicht kritiklos hinzunehmen und Freiheit zu erlangen, Freiheit mit singulären Strategien der sichtbarmachenden Formgebung.
Das Thema Mutter findet bei Hinze die Beschäftigung mit einem abendländischen religiösen Abbild: Anna Selbdritt, die Mutter und Schützerin der heiligen Mutter Maria. Anna legt ihren schützenden Umhang um Maria und ist damit auch Schützerin ihrer Tochter und des geborenen Erlösers der Menschheit. Hinze beschäftigt sich mit dem Ur-Thema Mutter und flechtet es als inhaltlichen Teilstrang in die Ausstellung mit ein. Das Thema Mutter steht für sie metaphorisch für die „Ur-Erinnerung“ ( sowie die Spirale für eine Ur-Form) und bedeutet die erste Begegnung an die der Mensch sich erinnert und die ihn unbewusst sein ganzes Leben prägen wird.
Die Ausstellung von Hinze untersucht inwieweit Rollenbilder und Erwartungshaltungen von Kollektiven die seelischen Strukturen des Einzelnen widerspiegeln. Hinzes gezeigte „Zitat-Zeichnungen“ auf Papier kreisen um das Konzept der Macht. Warum übt der eine sie aus; warum empfängt und unterwirft sich der andere? Wieviel Ordnung und Disziplin erhält oder untergräbt die Macht?
Hinze sucht Antworten in unbewussten menschlichen Vorgängen. Sie beginnt bei der einzelnen Person und vergleicht deren Sozialverhalten mit beziehungsdynamischen Prozessen in unterschiedlichen Gruppenzusammenhängen. Die Zeichnungen thematisieren gesellschaftliche Fragen nach dem einzelnen Individuum und dessen Machtausübung im sozialen Gefüge.
Verdrängungen nachzugehen, Verdrängungen von Ängsten, von Bildern, von Macht und Unterwerfung, von Rollen und Verhaltensmustern ist der Nukleus in Hinzes Werk. Sie versucht, durch ihre künstlerischen Auseinandersetzungen das unbewusste Wissen des Rezipienten zu aktivieren und Emotionen wachzurufen. Sie ist überzeugt, dass emotional analytisches Denken zu gesellschaftskritischen Erkenntnissen führt.
Den Bezug zur Architektur und gegebenen Raumverhältnissen sieht Hinze als Umgang mit gegebenen Raum- und Zeitaufteilungen. Ihre Zeit- und ihre Raumaufteilung bestimmt nicht die Maximierung der physischen Bewegungsmöglichkeiten, sondern die Auseinandersetzung mit verdrängten und damit machtvollen Schematisierungen.
Die Ausstellung wird ergänzt und erweitert durch gezeigte Arbeiten von Camilla Richter, Florian Schmidt, Simon Faithfull und Taka Kagitomi.
Text: Reimund Mimuss, 2017
Übersetzung: Pete Littlewood